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Leseprobe

Der warme Wind bläst mir ins Gesicht und kühlt meine von der Anstrengung verschwitzte Haut. Ich bleibe kurz stehen und lasse meinen Blick schweifen. Die Stufen der Steintreppe scheinen kein Ende zu nehmen. Auch wenn die Sonne bereits tief am Horizont steht, spüre ich die Hitze der vom Tag in den Steinen gespeicherten Wärme an meinen nackten Füßen. Die rauen, naturbelassenen großen Steinfliesen fügen sich zu bizarren großen Mosaiken zusammen und sorgen dafür, dass keine Stufe ist wie die andere. Auch sind einige Stufen größer und höher als andere. „So unperfekt schön“, denke ich, als ich nach unten schaue. Meine Füße überzieht eine Sandschicht und als ich die Stufen, die ich bereits erklommen habe, herunterschaue, sehe ich, dass ich eine Spur aus Sand hinter mir herziehe. Ich lasse den Blick weiter nach unten schweifen. Der Einstieg zur Steintreppe liegt weit unter mir. Die ersten Stufen kann ich nicht sehen, denn sie werden von zwei großen blühenden Bougainvillea-Büschen verdeckt. Fast meine ich, den lieblichen Duft der lila Blüten wahrnehmen zu können und atme tief ein. Der Geruch des Meeres steigt mir in die Nase und legt sich als leichter Salzgeschmack in meine Mundhöhle.

Ich schließe die Augen und hole noch einmal tief Luft. Wie ich diesen Geruch liebe. Als ich die Augen wieder öffne, blicke ich direkt auf das türkisfarbene Meer weit unter mir, das so klar und farbintensiv leuchtet. Einzelne größere Felsgruppen sind im Meer zu erkennen. Heute Morgen lagen sie noch außerhalb des Wassers. Flache Felsen, die schwarz glänzen, nachdem eine Welle sie überspült hat. Grüner Algenbewuchs bildet einen tollen Kontrast. Mein gelbes Handtuch, das ich heute Morgen dort abgelegt hatte, als ich zum Sonnenaufgang eine erste Runde im Meer schwimmen war, hatte das Farbspiel noch ergänzt.

Jetzt herrscht Flut, die Steine werden vom Wasser bedeckt und die Wellen sind höher. Das Rauschen des Meeres ist ein Geräusch des Friedens. Ein ewiges Kommen und Gehen. Sonst ist da nichts. Der Strand ist hier menschenleer. Nur ein paar Surfer – Einheimische, wie es aussah – hatten sich am späten Nachmittag hier getroffen, um mit den Wellen zu spielen.

Und so hatte ich den Tag am Strand meist allein verbracht. Hatte genug Zeit nachzudenken. Vielleicht sogar zu viel. Jetzt bin ich müde, obwohl ich gar nicht viel gemacht habe. Weitere Treppenstufen warten auf mich, noch etwa zwei Dutzend, wie ich aus den vergangenen Tagen weiß. Jeden Tag habe ich sie gezählt, eine unbewusste Marotte. Doch heute weiß ich nicht, auf welcher Stufe ich gerade stehe, fällt mir auf. Ich seufze erleichtert und bin selbst überrascht über dieses Geräusch. Dann muss ich kichern. Vielleicht werde ich hier langsam normal. Und sofort bin ich wieder ernst. Erinnere mich daran, warum ich eigentlich hier bin. Denn eigentlich ist gerade ganz und gar nichts normal. Doch bevor ich zulasse, dass sich eine Schwere in mir ausbreitet, lasse ich meinen Blick zum Horizont wandern. Dieser ist durch die Sonne bereits golden gefärbt und fängt langsam an, ein dunkleres Orange anzunehmen. Das Farbspiel wird durch das Wasser reflektiert. Die sich kräuselnden Wellen sehen aus wie flüssiges Gold. Ein Vogelschwarm fliegt direkt vor der Sonne durch die Szene – nur als Schatten wahrnehmbar. Es ist bereits der sechste Sonnenuntergang, den ich anschaue, der sechste Abend, an dem ich hier bin. Und doch merke ich, dass ich wieder den Atem anhalte, wieder überwältigt bin von der atemberaubend schönen Szenerie. Als die Sonne mit dem äußersten Rand ins Meer eintaucht, atme ich langsam aus. In mir macht sich ein tiefer Frieden breit. So, als ob ich durch diesen Ausatmer alles loslasse, was mich gedanklich beschäftigt hat. Der Wind frischt ein wenig auf und dankbar nehme ich wahr, wie er mein Gesicht kühlt. Die Haarsträhnen – gerade noch klebten sie mir vom Schwimmen im salzigen Meer nass am Kopf – wehen mir – getrocknet durch den Wind – wieder ins Gesicht und ich streife sie mir hinter die Ohren. Ein überflüssiges Unterfangen, denn der Wind spielt mit ihnen und holt sie immer wieder hervor. Ich muss lachen. Das Geräusch hört sich selbst in meinen Ohren ein wenig fremd und gleichzeitig wunderschön an. Ich stehe hier, im Sonnenuntergang am Meer mit nackten Füßen auf einem von der Sonne gewärmten Stein und fühle es zum ersten Mal seit langer Zeit wieder. Mich. Dankbarkeit. Demut. Erfüllung. Glück. Und plötzlich bin ich zum ersten Mal seit langem wieder zuversichtlich.

„Wo warst du so lange?“, frage ich die Zuversicht innerlich und beobachte dabei, wie die Sonne endgültig im Meer versinkt. Ein kleiner Abschied. Eine Vorfreude auf das Wiedersehen. Und ein tiefer Frieden in mir über dieses Wissen, dass es genau so sein wird. Ich atme die Meeresluft ein weiteres Mal tief ein und lasse mich vom Rauschen des Meeres begleiten auf meinem Weg nach oben. Ich klettere die Stufen hoch und schmunzle, als ich feststelle, dass Stufe 27 heute das Ende der Steintreppe bedeutet. So schnell wird man Macken wohl doch nicht los.

Am Ende der Treppe folge ich dem Sandweg ein paar Meter und verlasse ihn dann nach links, um ein paar weitere Stufen hinaufzuhüpfen zu meinem kleinen Strandhaus. Wobei die Bezeichnung Haus fast zu viel ist, eigentlich ist es eher ein Häuschen, denn im Innern gibt es neben einem kleinen abgetrennten Bereich für das Bad nur einen Raum.

Ich habe mich in dieses Häuschen in dem Moment verliebt, als ich es das erste Mal gesehen habe. Von außen ist das Gemäuer weiß übertüncht, aber die Nähe zum Meer hat bereits wunderschöne Spuren hinterlassen, sodass an einigen Stellen die graurote Farbe der Steinmauer durchschimmert. Das Holz der Haustür ist taubenblau gestrichen, ebenso wie die Fensterläden. Auch hier splittert die Farbe an einigen Stellen bereits ab und zeigt den hölzernen Untergrund. Das Dach ist mit den typisch mediterranen, mehrfarbigen Ziegeln gedeckt und erinnert mich an das Farbenspiel des Sonnenuntergangs. Das Haus hat eine steinerne Terrasse an der linken Seite, im gleichen Muster wie die Steintreppe, die zum Meer führt. Zwei große Palmen stehen in Tonkrügen an den zwei Ecken der Terrasse, gesäumt von weiteren kleinen und größeren Pflanzen. Aus einem der Krüge, welcher an der Hauswand steht, wachsen blühende Ranken, die die zwei großen Terrassentüren wuchernd umwachsen.

Über die Eingangstür gehe ich ins Haus und öffne direkt eine der Terrassentüren, um die kühlere Abendluft hineinzulassen, denn das Haus hat sich über den Tag aufgeheizt. Beim Anblick der Terrasse schlüpfe ich unter einem vorwitzig herunterhängenden Blütenvorhang hindurch nach draußen. Der Blick ist atemberaubend. Ich kann das Meer sehen, fast direkt unter mir, denn die Terrasse endet an einem kleinen Vorsprung, der auf das Meer hinausragt. Ich trete bis an das hölzerne Geländer und lasse meinen Blick bis zum Horizont schweifen. Erste Sterne sind bereits am Himmel zu sehen und das Meer spiegelt sie als Lichtpunkte. Ich löse das Handtuch, das ich mir locker umgebunden hatte, nachdem ich das letzte Mal am heutigen Tag aus dem Meer gekommen war, um nach Hause aufzubrechen, weil mich der Hunger überkam und hänge es zum Trocknen über das Geländer. Am Morgen hatte ich mir ein kleines Picknick gemacht. Reife, rot leuchtende Tomaten, die ich gestern auf dem Markt eingekauft hatte, süße Feigen, frisch gebackenes Brot, Oliven und einen leckeren Avocadoaufstrich. Meine Schätze hatte ich heute Mittag am Strand genossen, aber jetzt fordert mein Magen offensichtlich einen Nachschlag, denn er fängt laut an zu knurren, als ich an mein Mittagsmahl denke. Daher gehe ich wieder ins Innere des Hauses, knipse das Licht an, gehe in die kleine Küchennische, schneide mir ein paar weitere Scheiben des leckeren Brots ab und bestreiche sie mit dem Avocadodip. Aus dem Hängeschrank nehme ich mir einen Teller und streiche wieder einmal bewundernd über die schöne Lackierung. Dieser Teller ist bemalt mit einem Olivenbaum in der Mitte, umrankt am äußeren Tellerrand von einem Olivenzweig und gelben und grünen Oliven – so fein und detailverliebt gemalt. Die anderen Teller tragen ähnliche Motive – als Zitronenbaum, Orangenbaum, Bananenbaum, Feigenbaum. Ehrfürchtig richte ich die Brote auf dem Teller an, lege ein paar Tomaten und Oliven dazu und gehe mit dem Teller wieder nach draußen, um mich auf einem der zwei Holzstühle niederzulassen, die um einen Tisch stehen, der ebenfalls aus Holz ist. Auf einem blau-weiß karierten Kissen sitze ich bereits und ich angle nach dem anderen, welches auf dem zweiten Stuhl liegt, um es auch am Rücken bequem zu haben. Ein Bein ziehe ich in den Schneidersitz nach oben und stelle meinen Teller auf der so entstehenden Fläche ab. Dann lehne ich mich an und genieße. Das köstliche, einfache Essen, die warme Abendluft, das Rauschen des Meeres, der Geruch nach Salz, das Geräusch zirpender Insekten und … Nichts. Das ist es vermutlich, was ich am meisten genieße. Dieses süße Nichts. Nichtstun, Nichtsdenken, Nichtsmüssen.

 

Wie auch schon an den letzten Tagen werde ich am frühen Morgen von ein paar Vögeln geweckt, die sich in den buschigen Blumenranken um die Terrassentür zu unterhalten scheinen. Ein lieblicher Singsang wechselt sich ab mit einem keckernden Schimpfen. Ich räkle mich und öffne nach einem Moment die Augen. Die weit geöffnete Terrassentür lässt eine leichte Böe hinein und der weiße Vorhang bewegt sich sachte im Wind. Ich höre das Meer rauschen, selbst hinter der geräuschintensiven Unterhaltung meiner kleinen fedrigen Terrassenmitbewohner. Einen Moment bleibe ich noch liegen, dann schlage ich das weiße Laken zurück, das in diesen warmen Nächten als Decke vollkommen ausreichend ist, und setze mich auf. Der Steinboden im Häuschen ist noch angenehm kühl und ich genieße das Gefühl unter meinen nackten Füßen, als ich die wenigen Meter zur Terrassentür gehe und nach draußen trete. Dort werde ich von einer warmen, morgendlichen Brise begrüßt und lächle. Nur mit einem dünnen Top und einer kurzen Hose bekleidet, spüre ich den warmen Wind überall auf der Haut und ein wohliges Kribbeln breitet sich in mir aus. Hier ist es so leicht, die Gewitter der nächtlichen Träume abzuschütteln. Der Druck, der zu Hause beim Aufwachen mein ständiger Begleiter war, lässt mit jedem Morgen ein wenig mehr nach. Ich bin ihn bereits so sehr gewöhnt, dass ich auch hier mit dem Anbruch jedes neuen Tages darauf warte, dass sich mein Magen nervös zusammenzieht und ich eine Enge in der Kehle spüre, die ein tiefes Durchatmen unmöglich macht. Hier und jetzt breite ich jedoch die Arme aus und atme mit geschlossenen Augen tief ein. Wie lange habe ich das nicht mehr gemacht? Von den letzten Tagen einmal abgesehen? Dabei bin ich auch hier in den ersten zwei Tagen morgens hektisch aufgestanden, nervös herumgelaufen, im Eiltempo die Treppe zum Strand herunter und wieder hoch, ein paar Mal, um diese innere Unruhe und Aufregung zu vertreiben. Ihr davonzulaufen. Ich wurde erst ein wenig ruhiger, als ich mein Herz in meiner Brust von der Anstrengung wild pochen spüren konnte.

Ab dem vierten Tag wurde es weniger. Der schwere Stein in meinem Magen am Morgen wurde leichter, mein Herzschlag ruhiger. Denn hier gibt es für mich nichts zu tun, nichts zu erledigen. Noch fühlt sich das ungewohnt an. Als wenn in mir etwas noch immer damit rechnet, dass der Druck wiederkommt. Mein Körper scheint noch immer in Habachtstellung zu sein. Bereit, seine Signale wieder zu senden, sollte ich zurückfallen. Doch hier, in dieser Ruhe und Abgeschiedenheit komme ich jeden Tag ein wenig mehr zu mir und zu meinem Frieden zurück. In manchen Momenten spüre ich auch hier Druck: Dass es schnell gehen soll, dass es mir möglichst schnell besser gehen soll, dass ich so schnell wie möglich wieder nach Hause reisen kann, dass ich endlich wieder dieses tun und jenes erledigen kann. Aber ich hatte zugestimmt, mindestens drei Wochen hierzubleiben, auch wenn es mir beim Abflug wie eine endlos lange Zeit vorkam.

Ich spüre, dass sich meine Gedanken trüben bei der Erinnerung daran und schüttle leicht den Kopf, wie um sie zu vertreiben. Der Himmel färbt sich langsam hell. Ich wende den Blick vom Meer ab und gehe leicht um die Terrasse herum, um auf der anderen Seite auf das Land zu schauen, das im Moment mein Zuhause ist. Der Weg, der direkt vom Strand hierher führt, geht hinter dem Haus weiter und zieht sich in Wellen durch die hügelige Landschaft aus Gestein – große Felsbrocken und kleines Geröll – und einem Teppich aus Gräsern, größeren Büschen, kleineren Pflanzen mit dicken, kakteenartigen Blättern und Palmen in allen Größen. Die Hügellandschaft erhebt sich weiter im Inselinneren zu einer höheren Gebirgskette. Dort weiter oben wird das Grün weniger und das Gestein färbt sich von einer leichten Röte hier im Tal zu einem gelb-grauen Ton. Der Weg schlängelt sich in der Ferne um eine der Hügelketten herum und ich kann ihn nicht mehr sehen, aber ich weiß, dass er zu einem Dorf führt, denn dort hatte ich bereits ein paar Mal auf dem Markt eingekauft. Ich überschlage kurz gedanklich, wie viele Vorräte ich noch habe und ob ich mich auch heute auf den Weg machen soll, verschiebe die Entscheidung aber dann auf später. Eigentlich will ich heute die Insel einmal am Strand entlang erkunden, aber auch für diese Entscheidung habe ich noch Zeit.

Ich schnappe mir meinen Bikini und mein Handtuch vom Geländer – noch leicht feucht vom gestrigen Abend – und gehe ins Haus, um mich schnell umzuziehen. Zum Sonnenaufgang möchte ich am Strand sein und jetzt muss ich mich schon beeilen. Ich streife mein Bikinioberteil über und will mein Bikinihöschen anziehen, während ich gleichzeitig nach meiner Stranddecke greifen will, die ich über einen Stuhl gehängt hatte. Dabei bleibe ich mit dem Fuß hängen, stolpere und stoße schmerzhaft gegen eins der Stuhlbeine. Meinen ersten Impuls – zu schreien – unterdrücke ich und atme nur ein paar Mal geräuschvoll ein und aus, bis der Schmerz nachlässt. Das habe ich in den letzten Wochen gelernt – mein Körper spricht sofort zu mir. Und das war wieder einmal ein deutliches Signal: Mach langsam! Ich lächle zur Raumdecke hoch – aber eigentlich meine ich etwas, das irgendwo viel weiter oben sitzt – das Universum? – und nicke. Ja, ich habe verstanden.

 

Leise schließe ich die Haustür hinter mir und erinnere mich dann daran, dass ich hier niemanden wecken würde, selbst wenn die Tür krachend ins Schloss fällt. Jahrelang war es anders. Eine Gewohnheit, die über die vielen schlaflosen Nächte entstanden ist, in denen ich unruhig im Haus hin- und hergelaufen bin oder mich aus dem Schlafzimmer geschlichen habe, um im Wohnzimmer etwas Licht zum Lesen zu machen und niemanden zu stören. Irgendwann hat sich mein Körper wieder darauf besonnen, sich nachts die Erholungspause zu gönnen, denn ich hatte mir angewöhnt, sehr früh morgens aufzustehen, um noch einiges zu schaffen, bevor der normale Alltag losging. Die Nacht und ich waren Freunde, so dachte ich lang. Aber dem war nicht so.

Ich merke, dass meine Gedanken in eine Richtung abdriften, die ich – so hoffe ich – hier endlich loswerden würde. Aber so leicht ist es wohl nicht.

Doch mittlerweile fällt es mir auf, denke ich. „Ich bin nicht meine Gedanken“, wiederhole ich den für mich wichtigsten Satz, den ich in den letzten Wochen gelernt habe. In den Wochen nach dem Zusammenbruch. In den ersten Wochen der Heilung.

Daher übe ich es auch heute wieder: Ich lasse die Gedanken ziehen und komme mit meiner Aufmerksamkeit ins Hier und Jetzt. Keine Vergangenheit, keine Zukunft – den Fokus in diesem Moment. Ich verlangsame bewusst meine Schritte. Wie leichtfüßig ich mittlerweile barfuß über die kleinen Steine gehe, aus denen der erste Teil des Weges besteht, der von meinem kleinen Domizil hin zur Strandtreppe führt. An den ersten Tagen haben sie mich noch gepiekst und ich bin eher gestakst als gegangen. Mittlerweile fällt es mir ganz leicht. Ich genieße das Gefühl, die Natur direkt unter meinen Füßen zu spüren. Habe ich in den ersten Tagen noch auf Flip-Flops zurückgegriffen, gehe ich jetzt nur noch barfuß. Als ich die Steintreppe erreiche, bleibe ich kurz stehen und lasse den Blick schweifen. Der Himmel ist wolkenlos und wird mit dem Erwachen des neuen Tages zunehmend hellblau. Das Meer ist ruhig am heutigen Morgen, die Wellen kräuseln sich nur ganz leicht direkt am Ufer. Die schwarze Felsformation, die gestern Abend im Wasser verschwunden war, wurde vom Meer wieder frei gegeben. Ein ständiges Kommen und Gehen, Kommen und Gehen. Ich weiß nicht, warum, aber dieser Gedanke beruhigt mich. Als ich die Steinstufen nach unten gehe, spüre ich in meinem Rücken ein weiteres Kommen: Die Sonne läutet den neuen Tag ein. Ich bleibe stehen und drehe mich um. Der oberste Halbkreis eines leuchtend orange-roten Balls ist bereits über den Hügeln zu sehen und taucht die Landschaft in ein goldenes Licht. Die Felsen und die steinige Erde reflektieren das Licht und schimmern rötlich, die Palmen und Büsche, die hohen Gräser werfen lange Schatten durch die noch tief stehende Sonne auf die Landschaft – steinig, felsig, karg und doch von einem Grün überzogen. Eine magische Landschaft, die durch das Aufgehen der Sonne noch zauberhafter wirkt. Ich spüre, wie ich mich anstecken lasse von der Energie der Sonne, von ihrer Aufbruchsstimmung in den neuen Tag, von ihrer ruhigen Gelassenheit. Ich wende meinen Körper und mein Gesicht der Sonne zu, heiße sie willkommen. Ähnlich, wie es auch bei den Palmen und den großen Felsen wirkt, die nach hinten einen Schatten werfen. Als wenn sie der Sonne ihr Gesicht zuwenden, um sie willkommen zu heißen. Sie, die Energie schenkt, Leben schenkt.

Ich muss an etwas denken, dass ich vor einiger Zeit gelesen habe: Eine Schwäche ist wie ein Schatten, der durch Licht erzeugt wird. Interessant, dass mir das hier gerade wieder einfällt. Ich weiß noch, dass ich damals dachte: „Wenn ich mich nur immer günstig zum Licht stelle, bleibt mein Schatten anderen verborgen.“

Gerade sendet mir mein Unterbewusstsein jedoch eine neue Erkenntnis – hier im goldenen Licht der aufgehenden Sonne, an einem Ort fernab all der Hektik und all des Drucks. Doch dieser neue Gedanke schmerzt. Innerlich zucke ich zusammen in dem Moment, in dem er an die Oberfläche meines Bewusstseins dringt: Genau das ist mein Schatten: nach außen hin stark zu sein, unbesiegbar. Ja … perfekt. Ich dachte immer, dass das mein Licht wäre, aber jetzt mit etwas Abstand und im Vergleich mit der Natur sehe ich es: Das ist es nicht. Und statt ganz entspannt zu genießen, dass das Licht wie die am Himmel wandernde Sonne auch um mich herum leuchtet und verschiedene Teile meiner Selbst zum Vorschein bringt, habe ich mich immer mitgedreht, damit ja niemand meine Schwächen sehen kann, meine Zweifel, meine Erschöpfung. Und als wenn die Sonne meine Gedanken lesen kann, zeigt sie sich nun ganz – der zunehmend heller und leuchtender werdende orange Energieball löst sich auch mit seinem letzten Rand von der Bergkette und steht nun komplett am Himmel, als wenn er mich auffordern wollen würde, auch mich nicht mehr länger nur von einer Seite zu zeigen. „Von der Sonnenseite“, denke ich und in dem Moment fällt mir auf, wie passend dieser Gedanke in der aktuellen Situation ist. Während die Sonne langsam höher steigt, wende ich mich ab und gehe weiter die Steinstufen nach unten. In Gedanken bin ich noch immer bei der Erkenntnis meines Schattens. Ist das der Grund, warum ich hier bin? Ist es das, was mich so sehr erschöpft hat? Einige Stufen denke ich darüber nach. Ich beobachte, wie der lange Schatten, den eine Stufe auf die andere wirft, langsam etwas kürzer wird im Licht der weiter aufsteigenden Sonne. Ist der Schatten auch bei mir kürzer geworden? Und damit die Möglichkeit, sich zu verstecken immer kleiner? Ohne dass ich es bewusst merke, verfalle ich in Grübeleien. Auch als ich den Strand längst erreicht habe, lassen mich die schweren Gedanken nicht los. Erst, als ich spüre, dass mein Herzschlag sich immer weiter beschleunigt und sich Schweißperlen auf meiner Stirn bilden, wird mir bewusst, dass ich meine Schritte immer mehr beschleunigt habe – trotz der Anstrengung der Bewegung im weichen Sand. Außer Atem bleibe ich stehen. Und nach ein paar Augenblicken lasse ich mich in den Sand fallen, strecke meine Arme und Beine weit von mir und spüre, wie sich der Sand unter mir meiner Körperform angleicht. Er ist noch angenehm kühl, aber in den nächsten Stunden wird sich das ändern. Meine Augen sind in den Himmel gerichtet. Das Dunkel der Nacht ist komplett verschwunden – der Himmel ist blau und wolkenlos. Weit über mir zieht ein Vogel seine Runden – seine Bewegungen ein Wechsel zwischen treiben lassen und Flügelschlagen. Immer wieder lässt er sich durch den Wind gleiten. Ich schaue ihm fasziniert nach. Dann ist da wieder nur Blau – endlose Weite, die mein gesamtes Blickfeld einnimmt. Langsam komme ich zur Ruhe – mein Herzschlag beruhigt sich ebenso wie meine rastlosen Gedanken. Mit den Händen greife ich in den Sand und lasse die winzigen Körnchen zwischen meinen Fingern hindurchgleiten. Genieße das Gefühl des Fließens und die Ruhe, die sich einstellt. Es ist, als wenn ich in das Blau des Himmels eintauche. Ruhe, Frieden. Nur das Rauschen des Meeres begleitet meinen Atem. Und als die Sonne in mein Blickfeld wandert, fällt mir noch einmal das Zitat ein. Doch jetzt ist da keine Schwere mehr, denn meine Aufmerksamkeit gilt dem letzten Teil des Satzes: „… die durch Licht erzeugt wird …“ Bis eben habe ich in dem Licht wie selbstverständlich die Sonne gesehen, aber wenn es mein Schatten ist, ist es dann vielleicht auch mein Licht? Der Gedanke gefällt mir und ich nehme mir vor, noch einmal darüber nachzudenken, denn im Moment fällt mir noch kein Licht ein. „Aber“, denke ich, als ich mich im Sand aufsetze, „vielleicht bin ich ja wegen des Lichts hier und nicht wegen des Schattens.“

Mit diesem Gedanken drücke ich mich aus dem Sand hoch. Zumindest versuche ich es und lande dabei noch zweimal auf dem Po. Lachend gebe ich die elegante Version des Aufstehens auf und komme ungelenk hoch in den Stand. Das Handtuch, welches ich mir umgewickelt hatte, hat sich bereits gelöst. Und nun endlich … Das Wasser wartet.

 

Wenig später stehe ich in mein Handtuch gewickelt am Wasserufer. Das Wasser ist angenehm kühl und der leichte Wind sorgt für ein Kribbeln auf meiner Haut. Die Wellen umspielen weiter meine Füße. Auch wenn sie noch leicht und ruhig sind, ziehen sie mit jedem Turnus ein wenig Sand unter meinen Füßen weg und so lasse ich mich etwas eingraben, bis mein Stand instabil wird und ich aus der natürlich geschaffenen Grube heraussteige. Ich kann mich nicht sattsehen am Anblick der unendlichen Weite des blauen Meeres, die am kaum vom Wasser trennbaren Horizont in ein Himmelblau übergeht. Die Wärme der Sonne wird langsam spürbarer und mit ihr wird auch der Wind etwas stärker. So war es auch an den letzten Tagen schon – als wenn die zwei sich absprechen würden. Eine Weile bleibe ich noch genau hier stehen, lasse meine Gedanken treiben, male mit der großen Zehe Muster in den feuchten Sand, die das Meer wieder wegspült. Dann gehe ich am Ufersaum entlang Richtung Treppe. Erst jetzt sehe ich, wie weit ich – gefangen in meinem Gedankenchaos – vor ein, zwei Stunden gegangen bin. Jetzt genieße ich den Rückweg. Bei jedem Schritt achte ich auf die Wellen, die mal nur einen Fuß erwischen, mal beide und manchmal gar keinen. Als ich die Treppenstufen erreiche, bin ich durch den Wind schon wieder vollends getrocknet und so spüre ich schon bei den ersten Stufen, dass die Sonne mittlerweile ziemlich hoch am Himmel steht und ihre ganze Kraft entfaltet. Auch sind die Steinplatten mittlerweile wieder sonnenwarm unter meinen Füßen und ich spüre den Unterschied der Wärme je nach Farbe des Steins. Die dunklen Exemplare sind mittlerweile ziemlich heiß, die roten warm und die beige-braunen deutlich kühler. Und so spiele ich ein Spiel aus Kindheitstagen: Die schwarzen Steine darf ich nicht berühren. Konzentriert darauf, keine Fehler zu machen, erreiche ich mein Strandhaus schnell und ich gehe direkt durch die noch geöffnete Terrassentür ins Innere. Die Steinfliesen hier sind kühl und erstaunlicherweise halten sich in den dicken Gemäuern auch angenehme Temperaturen.

In der Küchennische setze ich mir einen Tee auf und zupfe ein paar Minzblätter von dem Strauß, den ich gestern aus dem Garten geholt hatte, um den Tee damit zu verfeinern. Dann fülle ich Haferflocken, Nüsse und Rosinen in eine Schüssel – auch sie mit einem Olivenbaum bemalt, passend zu dem Teller, den ich gestern zum Abendessen benutzt habe – übergieße alles mit etwas Milch und gebe zwei große Kleckse Joghurt dazu. Ein wenig Dattelsirup sorgt für Süße und zum Abschluss schneide ich die Mango auf, die ich vor zwei Tagen auf dem Markt gekauft habe, und gebe großzügig einen Teil in die Schale. Ein Stück nasche ich und mir entfährt ein glückliches „Mhhhhhh“. Voller Vorfreude auf das Frühstück stelle ich Tee und Schüssel auf ein Tablett und trage so beides nach draußen. Da ich heute spät dran bin, steht dort, wo ich am gestrigen Abend noch gesessen habe, mittlerweile die Sonne und ich gehe etwas weiter um das Haus herum. Die gesteinte Terrasse geht hier noch etwas weiter in eine Gaube aus Holzbalken, die von Weinreben überwachsen ist, wilde Ranken, die ein Blätterdach bilden, durch das das Sonnenlicht hindurchblinzelt und so ein Licht- und Schattenmuster auf den Holztisch malt, auf dem ich jetzt das Tablett abstelle. Auch von hier kann ich gerade noch das Meer sehen – den Teil, der weit rechts von den Steinstufen liegt. Diesen Bereich habe ich bisher noch gar nicht erkundet, denke ich bei mir. In den letzten Tagen bin ich intuitiv nach links gegangen. „Dann wird es heute Zeit“, nehme ich mir vor und fange an, mein Müsli zu essen.

 

Als ich wenig später das benutzte Geschirr ins Haus bringe, fällt mein Blick auf die Uhr an der Wand – ein Kreis aus schwarzem Metall mit römischen Ziffern. Trotzdem erkenne ich, dass es bereits fast Mittag ist und ich spüre eine Unruhe in mir. Doch diese verschwindet sofort wieder, als ich mir klarmache, dass ich hier nichts zu tun habe – der ganze Tag liegt noch vor mir und es gibt nichts zwingend und dringend zu erledigen. Das ist so ungewohnt, fühlt sich so seltsam an. Das letzte Mal, dass ich dieses Gefühl hatte, ist wohl schon so lang her, dass mein Unterbewusstsein noch gar nicht weiß, wie es darauf reagieren soll.

Nachdem ich in eine kurze Hose und ein Top geschlüpft bin, an den Füßen bekleidet mit Socken und Schuhen, fülle ich meinen Rucksack mit ein paar Nüssen, schneide mir ein großes Stück Brot ab, angle mir noch einen Pfirsich aus der Obstschale, packe ein paar Tomaten in eine Dose und fülle meine Wasserflasche auf. Dann schließe ich die Terrassentür – meine kleinen fedrigen Mitbewohner sind jetzt ganz still – und gehe durch die Eingangstür nach draußen. Kurz überlege ich, ob ich noch einen Umweg über das Dorf gehen soll, aber eigentlich habe ich genug Proviant für eine kleine Wanderung dabei und so wende ich mich in die für mich noch unbekannte Richtung nach Süden. Der Weg – eine Mischung aus festem roten Sand und Stein führt in leichten Wellen auf und ab, wie ein Höhenweg parallel zum Meer links von mir. Manchmal versperren mir große Büsche den Blick auf das Wasser, manchmal auch Baumgruppen oder vereinzelt stehende Bäume – Pinien vermute ich. Und die typischen Olivenbäume mit ihrer knorrigen Rinde und den silbrig-grünen kleinen Blättern. Ihre Wuchsform zeigt die Windrichtung, denn sie lehnen sich weit über den Weg – an dieser Seite mit deutlich dichterem Blattwerk als auf der dem Meer zugewandten Seite. Ihre Wurzeln brechen hier und dort durch den Boden. Miteinander verbunden und verknotet sorgen sie für eine von der Natur geschaffene Treppe. Und immer wieder bilden die langen, kahlen Stämme von hoch aufragenden Palmen eine Abwechslung. Das stete Auf und Ab sorgt dafür, dass ich bald ordentlich ins Schwitzen komme. Ich genieße die Anstrengung, kann mein Herz in der Brust schlagen spüren. Meine Haut bedeckt ein leichter Schweißfilm, der für eine angenehme Kühle sorgt, wenn eine leichte Brise darüber streift. Eine größere Baumgruppe sorgt für angenehmen Schatten auf dem Weg und ich bleibe stehen, um etwas zu trinken und meinen Atem zu beruhigen. Der Weg vor mir zeigt jetzt eine doch beachtliche Steigung. Mittlerweile muss es gegen 3 Uhr sein, denn die Sonne steht in ihrer vollen Kraft und macht den vor mir liegenden Anstieg wenig attraktiv. Außerdem signalisiert mir mein Magen mit einem leichten Brummen, dass es Zeit ist für ein kleines Picknick. Hier kann ich hinter der Baumgruppe das Meer allerdings nicht sehen und so beschließe ich, den Weg noch hinaufzugehen und mich dort nach einer Rastmöglichkeit umzuschauen. Auf der rechten Seite ist die steil nach oben gehende Grasfläche jetzt durch mehrere kleine Mauern – aufgestapelte Steine – in Terrassen unterteilt. Auch der Weg selbst ist hier von diesen Mauern gesäumt, die genau dort anfangen, wo ich an der Gruppe von Bäumen eine Trinkpause gemacht hatte.

Als ich – etwas außer Atem – am Ende des aufsteigenden Weges ankomme, weiß ich auch, wieso. Hier gibt es ein kleines Plateau – nicht mehr als eine größere Ausbuchtung des Weges – das auf das Meer hinausragt. Die Mauer erhebt sich hier noch etwas höher und als ich an den Rand trete, sehe ich, dass es hier gut 30 Meter nach unten geht, fast direkt unter mir das Meer. Hier schlägt es in höheren Wellen direkt an die natürliche Wand aus Stein. Der Ausblick hier an der Steilküste ist atemberaubend. Ich kann das Meer riechen, hören, fühlen und schmecke das Salz in der Luft. Genau hier ist der perfekte Platz. Daher klettere ich auf die Mauer, die sonnengewärmt ist und packe meinen Proviant aus. Glücklich beiße ich von meinem Stück Brot ab, schmecke die Haselnüsse und schließe genüsslich die Augen. Es stammt aus einer kleinen Bäckerei im Dorf nahe meinem Haus und ich habe sie sofort lieben gelernt, auch aufgrund ihrer herzlichen Besitzerin Maria. Die Liebe zu ihrem Beruf schmeckt man in allen ihren Köstlichkeiten. Insbesondere in der Spezialität der Bäckerei – einem mit einer Mandelcreme und Nüssen gefüllten Hörnchen. Schon beim Gedanken daran läuft mir das Wasser im Mund zusammen und ich beschließe, Maria morgen wieder zu besuchen.

Als ich das Stück Brot wieder auf dem blauen kleinen Leinentuch ablege, in dem ich es eingewickelt mitgenommen hatte, um nach den Tomaten zu greifen, setzt sich eine Möwe zu mir auf die Mauer und läuft watschelnd ein paar Schritte auf mich zu. Aus der Ferne und in der Luft finde ich diese Vögel faszinierend, aber so nah sind sie mir etwas unheimlich. Ihr Schnabel kann sicherlich einigen Schaden anrichten, wenn ich sie wütend mache. Kurz überlege ich daher, mein Brot an sie zu verfüttern, aber ich erinnere mich, dies einmal ganz unbedarft in der Fußgängerzone meiner Heimatstadt mit Tauben gemacht zu haben. Und plötzlich waren da 5, dann 10, dann 20. Und es wurden immer mehr.

Daher bleibe ich sitzen und beobachte angespannt, was sie als nächstes tut. Doch sie bleibt einfach stehen, schaut mich an. Oder vielleicht bilde ich es mir auch ein. Dann legt sie ihren Kopf schief. Ja, sie blickt mich tatsächlich an. Und plötzlich wirkt sie gar nicht mehr bedrohlich. Irgendwie habe ich sogar das Gefühl, dass uns etwas verbindet. Ihr ruhiger Blick bewegt irgendetwas in mir. Doch bevor ich begreifen kann, was es ist, wendet die Möwe sich ab, breitet die Flügel aus und lässt sich mit dem Wind hinaus über das Meer tragen. Bald ist sie nur noch ein Schatten in der Ferne. Ein Punkt vor dem satten Blau des Himmels. Für einen Moment kommt es mir vor, als wenn ich ganz woanders wäre. Dann erinnert mich das laute Geräusch der an den Stein unter mir klatschenden Wellen wieder daran, wo ich bin. Erfüllt von einem tiefen Frieden genieße ich die weiteren Bestandteile meines Picknicks – die saftig aromatischen Tomaten, die Süße des Pfirsichs und noch ein wenig von dem köstlichen Brot – und schaue hinaus aufs Meer.

 

Ich weiß nicht, wie lange ich hier schon sitze, doch ich merke, dass das gleißend weiße Licht der Tagessonne schon übergegangen ist in das weichere, goldene Licht der Spätnachmittagssonne. Noch immer fällt es mir nicht leicht, keine Uhr zu tragen und nicht zu wissen, wie spät es ist. Aber dies ist eine der Hausaufgaben, die ich mitgenommen habe. Um so zu lernen, mich wieder meinem eigenen Rhythmus anzupassen und im Rhythmus mit der Natur zu fließen. Keine Wecker, keine Erinnerungen, keine Termine, kein Zeitdruck.

Noch immer schaue ich – vermutlich mehr aus Reflex – mehrere Male am Tag auf mein Handgelenk und sehe, dass es leer ist. Der weiße Abdruck meiner Armbanduhr wird mit jedem Tag ein wenig kleiner.

Es hilft. Die Nervosität, mit der ich auf meine Uhr schauen will, weil ich denke, dass ich doch sicher irgendetwas verpasst habe, irgendetwas vergessen habe, noch irgendetwas tun muss, lässt nach. Ich lerne auch, wieder mehr auf meinen Körper zu hören – intuitiv zu schlafen, zu essen, zu trinken. Und nicht, weil die Uhrzeit es mir vorgibt. Aber ich muss mich trotz allem noch daran gewöhnen.

Auch jetzt stelle ich wieder fest, dass ich auf ein leeres Handgelenk blicke statt auf die digitale Anzeige meiner Sportuhr und muss lächeln. Erwischt – einmal mehr.

Ich packe die Reste meiner Lebensmittel ein, trinke noch einen Schluck aus meiner Flasche und hüpfe dann von der Mauer, nachdem ich noch einmal den unglaublichen Ausblick auf die sich brechenden Wellen am Steilufer unter mir genossen habe. Die weiße Gischt spritzt meterweit nach oben. Unglaublich, welche Kraft das Meer hat.  

Wieder auf dem Boden stehend, merke ich, dass eines meiner Beine eingeschlafen ist vom langen Sitzen. Ich warte ein paar Momente, schaue auf meine türkisfarbenen Turnschuhe, die von einer leichten roten Staubschicht überzogen sind und merke, dass mein Gefühl im Bein langsam zurückkehrt. Ich bin ein wenig unschlüssig, ob ich bereits zurückgehen oder noch ein Stück weiterwandern soll. Aber da mich nichts und niemand erwartet, entscheide ich mich für die zweite Option und folge dem Weg weiter durch die mediterrane Landschaft aus Gräsern, Büschen und Palmen.

Als der Weg einige Zeit später eine Kurve macht, bin ich froh über meine Entscheidung. Eine Allee aus Olivenbäumen, die durch ihren windangepassten Wuchs ein Blätterdach über dem Weg bilden, die Sonnenstrahlen, der immer goldener werdenden Lichtkugel am Himmel, die vereinzelt durch die Blätter fallen und Lichtmuster auf den Boden malen und der Duft der Gräser, die zwischen den Bäumen wachsen, geben mir das Gefühl, ein Stück Paradies gefunden zu haben. Ich schaue nach oben durch das Blätterdach hindurch, während ich einen Schritt vor den anderen setze, breite die Arme aus und als der Weg leicht bergab geht, fange ich an zu laufen. Das hier ist Glück, denke ich, als mir der salzige Wind des Meeres entgegenweht und durch die Haare fährt.

 

Und dann falle ich.

DALL·E 2024-07-13 15.30.17 - A hiking trail resembling a long alley lined with olive trees
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